6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft
www.kmu.ekd.de

Kommentar von Prof. Dr. Volker Gäckle

Die 6. KMU: „Multiple Krisen“

Seit 1972 gibt die EKD im Rhythmus von 10 Jahren eine sog. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) in Auftrag. Im November wurden die Ergebnisse der mittlerweile 6. KMU dieser Art veröffentlich. Während die bisherigen fünf KMU’s den evangelischen Kirchen eine grundsätzliche Stabilität und nur einen langsamen Rückgang der Mitgliederzahlen beschieden, ist diese KMU anders. Es dominieren in dieser Studie Begriffe wie „multiple Krisen“, „Vertrauensverlust“, „Veränderung“, „Reformdruck“. Sie kulminieren in einem Satz: „Die Kirche scheint jetzt an einem Kipppunkt angelangt zu sein, der schon in den nächsten Jahren in erhebliche Instabilitäten und disruptive Abbrüche hineinführen kann“ (S. 59).
Was veranlasst die Forscher zu einem solchen Satz?
– Ganz grundlegend nehmen die Religiosität und damit auch der Glaube an Gott in der Bevölkerung rapide ab. Noch 19% stimmen dem Satz zu „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“ (unter den Protestanten und Katholiken stimmen immerhin noch ca. ein Drittel diesem Satz zu). Der Rest glaubt an ein höheres Wesen, eine geistige Macht, an gar nichts mehr oder weiß nicht, was er/sie glauben soll.
– Damit ist im Übrigen auch der liberale Mythos von einer Individualisierung der Religion widerlegt, der gerne im liberalen Protestantismus im Anschluss an F.D.E. Schleiermacher (1834) kolportiert wurde. Demnach könne die Religiosität des Menschen gar nicht abnehmen, weil es eine anthropologische Konstante sei, die im Menschsein eingebaut sei. Die 6. KMU sagt: Stimmt nicht! Deutschland wird immer säkularer und Religion verdampft auf allen Ebenen.
– Unter den 54% der Bevölkerung, die säkular eingestellt sind, dominiert auch nicht mehr die Indifferenz, wonach den meisten Religion einfach egal ist. Es nehmen vielmehr diejenigen deutlich zu, die Religion dezidiert ablehnen (die sog. Säkular-Geschlossenen). Auf Deutsch: Der antireligiöse Gegenwind wird zunehmen!
– Kam bei der letzten KMU vor 10 Jahren (2012) noch für 74% der Evangelischen ein Kirchenaustritt nicht in Frage, so sagen das heute nur noch 35%. D. h. für zwei Drittel der evangelischen Kirchenmitglieder ist der Austritt eine Option, bei den Katholiken sind es sogar drei Viertel. Diese Zahlen sind nicht nur luftige Theorie. Sie entsprechen auch den realen Austrittszahlen. Der meistgenannte Grund für die Austrittsgedanken ist die Gleichgültigkeit. Kirche und Glaube haben für die Mehrheit der Mitglieder an Relevanz verloren.
– Die Studie enthält auch einige Paradoxien: So befürworten die befragten Kirchenmitglieder mehrheitlich genau das, was die EKD-Gliedkirchen machen: Engagement für Geflüchtete, Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren, politische Einmischung. 85% (82% der Protestanten) wollen auch einen „neutralen“, rein informativen Religionsunterricht ohne konfessionelle Prägung und Verpflichtung. Aber sie „belohnen“ den gewünschten liberalen Kurs der Kirchen mit ihrem Kirchenaustritt. D. h. die evangelischen Kirchen bekommen von einer Mehrheit ihrer Schäfchen Applaus für ihren Kurs, aber von immer mehr nicht mehr die Kirchensteuer. So groß ist die Liebe dann doch nicht.
– Das gleiche Bild bei den Gottesdienstbesuchen. Auch die sind auf einem absoluten Tiefststand angelangt und die Pandemie hat die Situation noch einmal verschärft. Paradox ist aber auch hier, dass v. a. diejenigen den Gottesdienst für sehr wichtig halten, die nicht hingehen.
– Unterstrichen wird auch die Erfahrung bei vielen evangelistischen und missionarischen Initiativen: „Die Nachfrage nach Religion ist gering“ und „ein konfessionell stark profiliertes Leben wird abgelehnt“.
– Interessant ist schließlich auch eine andere Feststellung: Wenn Menschen nicht bereits als Kinder und Jugendliche mit dem Glauben und der Kirche in Berührung gekommen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es im Erwachsenenalter geschieht, sehr gering. Nichts unterstreicht die Bedeutung von Kinder- und Jugendarbeit, von Konfirmanden- und Religionsunterricht mehr als das. Hier muss etwas Priorität bekommen, was gerade am Verkümmern ist!

29.11.2023