ZEHN ZUKUNFTSIMPULSE
Was wir heute brauchen, um morgen lebendige Gemeinden zu haben.
16. Juni 2022
PROLOG
Auf unserem Weg durch die Zeit brauchen wir Jesus Christus. Was für alle Menschen, Gemeinden und Kirchen zu allen Zeiten galt, erleben wir in den Umbrüchen, Krisen und Veränderungen unserer Tage in besonderer Weise. Wir merken, wie wir mit unserer Weisheit und unseren Ideen, unseren Antworten, Konzepten und Lösungen an Grenzen stoßen. Jesus Christus ist Gottes endgültiges Wort (Hebr 1,1–2), das seine Gemeinde trägt und erhält und seine Kirche auf dem Weg in die Zukunft leitet. Wohin sollten wir gehen, wenn nicht zu ihm, der Worte des ewigen Lebens hat (Joh 6,68)? In dieser Gewissheit beschreiben wir im Folgenden zehn Impulse, von denen wir überzeugt sind, dass unsere Gemeinden, Gemeinschaften und unsere Kirche sie brauchen.
MEHR HOFFNUNG
Wir brauchen wieder mehr »Hoffnung besserer Zeiten«1 in unserer verunsicherten und müde gewordenen Christenheit.
Wir wissen um unsere Überforderung und Überlastung, aber wir vertrauen auch nicht auf unser Wissen und unser Können. Wir werden das Reich Gottes nicht bauen und wir werden es erst recht nicht vollenden. Aber Jesus wird es tun. Weil Jesus nicht »der große Kaputtmacher, sondern der große Erneuerer«2 ist, bleiben wir getrost, gelassen und fröhlich und genau deshalb die Hoffnungsbewegung in dieser Welt.
MEHR EHRLICHKEIT
Wir brauchen mehr Ehrlichkeit im Blick auf den Zustand unserer Gemeinden, unserer Gemeinschaften und unserer Kirche.
Wir verzichten auf Beschönigungen, wo es nichts zu beschönigen gibt. Wir verzichten aber auch auf eine Schwarzmalerei, die Gottes Wirken in unseren Gemeinden, Gemeinschaften und in unserer Kirche übersieht. Wir sagen offen und ehrlich, was die Stunde geschlagen hat. Dabei wissen wir, dass auch der Pietismus keine heile Welt ist. Wir gestehen die eigene Erschöpfung und Ratlosigkeit ein und stellen gleichzeitig die größer werdenden Leerstellen unserer Arbeit Gott zur Verfügung. Wir nehmen als Christinnen und Christen das faktische Ende unserer Kirchen in ihrer Gestalt als »Volkskirche« und unsere neue Rolle als eine Minderheit in einer nachchristlichen Gesellschaft bewusst an.
MEHR FREIHEIT
Wir brauchen mehr Freiheit für Gemeinden und Gemeinschaften innerhalb unserer Kirche.
Wir sind davon überzeugt, dass Gemeinden und Gemeinschaften mehr Freiheiten und mehr Rechte brauchen, um ihre Arbeit und ihre Angebote in den tiefgreifenden Veränderungen der Gegenwart so zu gestalten, dass neue Formen geistlichen Lebens, missionarischer Dynamik und diakonischen Dienens entstehen. Wir brauchen mehr Mut, um neue Wege zu wagen, und weniger Regeln zur Erhaltung erneuerungsbedürftiger Strukturen. Wir brauchen mehr Freiheit, die Formen und Strukturen einer überforderten Kirche loszulassen, die nicht mehr helfen und die nicht mehr zu halten sind. Wir brauchen mehr Freiheit für freie Werke als Impulsgeber für Mission, Diakonie, Gemeinde und Bildung.
MEHR EINHEIT
Wir brauchen in unseren Gemeinden sowie in Kirche und Pietismus mehr Einheit, mehr Miteinander und mehr Vertrauen zueinander.
Wir erleben in unseren Tagen viele Kräfte und Strömungen, die uns auseinandertreiben. Wir erleben Spannungen, Trennung und Spaltungen, die uns belasten und dem Leib Christi Schaden zufügen. Wir sind überzeugt, dass uns das Hören auf das biblische Wort zusammenführt und uns gleichzeitig auf neue Wege führt. In diesem Hören halten wir Spannungen aus und bleiben trotz unterschiedlicher Einsichten beieinander. Wir ermutigen unsere Gemeinden und unsere Kirche im Hören auf Gottes Wort zu einem vertieften Hören aufeinander.
MEHR GEMEINDEGRÜNDUNGEN
Wir brauchen in Kirche und Pietismus neue Gemeinden und neue Gemeindeformate.
Die missionarischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Tage sind für unsere Kirchengemeinden und Gemeinschaften eine Überforderung, die sie zunehmend erschöpfen. Deshalb brauchen bewährte Gemeinden die Freiheit zur Konzentration auf Arbeitszweige, die blühen, und zum mutigen Abschied von Arbeitszweigen, die nicht mehr zukunftsfähig sind. Gleichzeitig brauchen wir die Ergänzung durch eine Vielfalt sowohl neuer als auch verschiedener Gemeinden. Wir brauchen mehr Ermutigung, Hilfestellung und Begeisterung zur Gründung neuer Gemeinden und mehr Mut zur Zusammenarbeit zwischen bewährten und frischen Formen der Gemeinde.
Wir brauchen mehr haupt- und ehrenamtliche Evangelistinnen und Evangelisten in einer Gesellschaft, die vergessen hat, dass sie Gott vergessen hat. Wir brauchen neue Ideen, um das Evangelium sowohl in unseren Alltagsbezügen als auch in der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen oder neu bekannt zu machen.
Wir schämen uns des Evangeliums nicht (Röm 1,16) und geben freimütiger Rechenschaft von der Hoffnung, die in uns ist (1Petr 3,15). Wir wollen wieder fröhlicher und einfacher über die befreiende Erfahrung von Umkehr, Vergebung und Neuanfang sprechen. Und wir wollen der gesellschaftsverändernden Kraft eines in tätiger Liebe gelebten Glaubens wieder mehr zutrauen.
Wir brauchen mehr missionarische Diakonie und mehr diakonische Leidenschaft in unseren Gemeinden.
Unser erster Auftrag als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi ist es, den Menschen zu dienen. Durch Mission und Diakonie bezeugen Christen und Gemeinden in Wort und Tat die Liebe Jesu zu dieser Welt. Weil wir unserem pietistischen Erbe verpflichtet sind und weil die Liebe die schönste Sprache der Welt ist, wollen wir die diakonische Leidenschaft wieder wecken. Wir wollen als Pietismus wieder mehr Salz und Licht für unsere Gesellschaft und unser Land sein.
MEHR THEOLOGIE
Wir brauchen mehr Theologie in unseren Predigten, in unseren Liedern und in unseren Gemeinden.
Wir brauchen mehr Bibel und mehr Theologie auf allen Ebenen unserer Gemeinden, Gemeinschaften und in unserer Kirche, von der Kirchenleitung bis in die Kinderkirche. Denn unsere Verkündigung und Lehre wird ohne eine lebendige Bibelauslegung und Theologie unfruchtbar und langweilig. Von unseren geistlichen Vätern und Müttern haben wir gelernt, dass »Lehre und Leben« sowie »Glauben und Denken« zusammengehören und dass wir auf eine falsche Theologie nicht mit einem Verzicht auf Theologie antworten dürfen. Wir vermeiden dabei sowohl eine unbiblische Enge als auch eine »untheologische« Beliebigkeit, sondern ringen immer wieder um den Christus-gemäßen Weg sowohl in Klarheit und Wahrheit als auch in und Liebe und Barmherzigkeit.
MEHR WEITE BEI DER AUSBILDUNG VON PFARRERINNEN UND PFARRERN
Wir brauchen mehr Weite bei der Ausbildung unseres theologischen Nachwuchses.
Wir sind davon überzeugt, dass das einlinige Studienformat an den theologischen Fakultäten ebenso wie das einförmige Pfarramt unserer Landeskirche den vielfältigen missionarischen und evangelistischen Herausforderungen unserer Tage nicht mehr allein gerecht werden. Wir brauchen eine größere Vielfalt unterschiedlicher Gaben des Dienstes in unseren Gemeinden und deshalb auch eine größere Offenheit für zeitgemäße Ausbildungsformate in der theologischen Ausbildung, mehr Weite in den Ausbildungswegen und breitere Zugänge zum Pfarramt. Und wir brauchen eine Ausbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer, die nicht nur über Gottesvorstellungen reflektiert, sondern die zugleich mit dem Wirken des lebendigen Gottes rechnet.
MEHR GEMEINSCHAFT MIT CHRISTEN AUS ALLEN MILIEUS, KULTUREN UND VÖLKERN!
Wir brauchen in Kirche und Pietismus mehr Gemeinschaft und mehr Partnerschaft mit der weltweiten Gemeinde Jesu, die schon heute mitten unter uns lebt.
Als weltweite Gemeinde sind wir eine Bewegung aus vielen Milieus, Kulturen und Völkern und müssen es gleichzeitig erst noch werden. Deshalb wollen wir mehr Menschen verschiedenster Herkunft und Sprache in unsere Gemeinden integrieren und mehr Brücken zu Gemeinden nichtdeutscher Sprache schlagen. Wir sind überzeugt, dass wir die geistliche Lebendigkeit und Dynamik ebenso wie die geistlichen Einsichten und Erfahrungen unserer Schwestern und Brüder aus dem Globalen Süden brauchen.
1 Vgl. Hoffnung besserer Zeiten – Erwartungshorizonte der Christenheit.
Drei Schriften Philipp Jakob Speners aus den Jahren 1693/94, in: Philipp Jakob Spener Schriften,
hg. von Erich Beyreuther, Bd. VI.1 und 2, Hildesheim/Zürich/New York 2001.
2 Johann Christoph Blumhardt (1805-1880), nach Friedrich Zündel, J. Chr. Blumhardt, Gießen 1920, 224.
EPILOG
Wir lassen uns von der Sorge um unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Kirche nicht lähmen, sondern bleiben mutig, zuversichtlich und getrost. Wir vertrauen auf Gott, den Vater, der den Lauf der Zeiten lenkt, auf Jesus Christus, den Herrn der Kirche, der seine Gemeinde zum Ziel führt, und auf das Wirken des Heiligen Geistes, der uns Wege zeigen wird, die wir heute noch nicht kennen.