Freiheit und Pflicht

Die Schlüsselfrage beim Impfen heißt: Wer schützt die Schwächsten?

Ein Impuls zur Aktuellen Stunde
der Landessynode Württemberg von
Pfr. Steffen Kern am  26. Nov. 2021

 

Am Ewigkeitssonntag wurden im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen verlesen. So auch in meiner Gemeinde. Zu den Verstorbenen der zurückliegenden Zeit zählen auch 11 Personen aus dem örtlichen Pflegeheim. Sie sind im Zusammenhang mit einer Covid-Infektion verstorben. 11 Menschen bei 24 Pflegeplätzen! Für jeden wurde ein Kerze angezündet. Betroffenheit. Trauer. Gebet. Schweigen.

Freilich, das Schweigen wird schnell durchbrochen und überlagert von lauten Debatten. Manche davon sind nötig und hilfreich, andere nicht. Nötig und hilfreich sind Wortmeldungen, die argumentieren und versuchen, möglichst viele für einen verantwortlichen Weg zu gewinnen. Nicht nötig und nicht hilfreich sind Voten, die rechthaberisch auftreten, die jeweils Anderen nur bloßstellen und immer nochmals draufschlagen. Unsere Debatten leiden an einem zunehmenden Rowdytum der Verbalakteure, leider auch der christlichen.

Im Fokus stehen Schlagworte wie Meinungsfreiheit und Impfpflicht. Was hilft jetzt weiter?

Es geht – wie so oft – um Freiheit und Verantwortung.

Zur Freiheit: Verschiedene Meinungen sind schlicht zu akzeptieren. Auch die offensichtlich falschen. Das ist Meinungsfreiheit. Dazu gehört auch die Freiheit zur Unvernunft. Dafür sollten wir als „Kirche der Freiheit“ durchaus eintreten – allerdings nicht für eine Freiheit ohne Verantwortung. Oder gar für eine Freiheit zur Verantwortungslosigkeit. Auch das gilt es zu markieren. Wer nur Misstrauen sät gegenüber Wissenschaft, Politik und Medien, wer kurzerhand alles zum „Mainstream“ degradiert, und wer sich dann selbst als ausgegrenzt und diskriminiert inszeniert und dafür womöglich noch Bibelstellen missbraucht, braucht vor allem eines: schlichten sachlichen Widerspruch. Denn unsere christliche Freiheit ist, wie die Bischöfe von Baden und Württemberg gestern zurecht markierten, eine „Freiheit zur Fürsorge“.

Damit sind wir bei der Verantwortung. Die Schlüsselfrage heißt: Wer schützt die Schwächsten? Um sie geht es: die Menschen in Pflegeheimen, Menschen mit Behinderungen, Einschränkungen und Erkrankungen, die sich nicht impfen lassen können. Dazu gehören auch viele Kinder. Sie sind am stärksten gefährdet. Sie sind die wahrhaft Ausgegrenzten und Diskriminierten. Sie sind die Leidtragenden der Pandemie. Für sie haben wir Verantwortung. Sie zu schützen, ist für uns als Christenmenschen oberste Pflicht. Darum gibt es für uns aus meiner Sicht so etwas wie eine innere Verpflichtung zu einer Impfung. Und genau dafür treten wir auch öffentlich ein und sagen: „Leute, lasst euch impfen!“ Wir sagen es werbend, nicht spaltend; respektvoll und klar. Denn am Schutz der Schwächsten entscheidet sich der Wert einer Gesellschaft! (Diese Einsicht ist übrigens auch in Fragen des Lebensschutzes, rund um Abtreibung und Sterbehilfe, relevant.) Und ja, diese Verpflichtung den Schwächsten gegenüber kann, wenn alle anderen Maßnahmen nicht ausreichen, auch eine Pflicht zum Impfen werden. Eine Impfpflicht ist wohl eines der letzten Mittel zur Bekämpfung einer Pandemie, aber es ist kein unmögliches und gewiss kein unethisches Mittel. – Auf diese Situation gehen wir zu. Noch aber bleibt vor einer allgemeinen Pflicht die Hoffnung auf Einsicht.

Steffen Kern, Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes