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Unsere Hoffnung auf Jesus Christus und der Mut zur Veränderung in einer Kirche der Hoffnung

„Denk ich an die Kirche in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“ – frei nach Heinrich Heine könnten wir jetzt ein großes Klagelied über die Kirche anstimmen. Wir könnten viel Aktuelles bejammern und die vermeintlich guten alten Zeiten beschwören. In Kirchengeschichte sind wir ja gut, und in Kirchenschelte meist noch besser. Aber die Empörung bringt uns nicht weiter, auch wenn Schlagzeilen verschiedenster Medien und Schlagabtausche auf Facebook und Co ständig emotionalen Nachschub liefern und hitzige Wortgefechte befeuern. – Wir blicken nüchtern nach vorn: Welche Kirche werden wir in den nächsten Jahren sein? Welche Kirche wollen und brauchen wir? Und vor allem: Welche Kirche sind wir in den Augen unseres Herrn und sollen es neu werden?

Abschied von Vertrautem

Michael Herbst hat schon recht, wenn er sagt: Wir müssen „Abschied nehmen von rückwärts gewandten Kirchenbildern, die davon träumen, möglichst viel von der alten Kirchlichkeit zu retten und möglichst wenig zu verändern“. Das klingt hart. Aber zuletzt hat die viel zitierte Freiburger Studie über die Kirchenmitgliedschaft unmissverständlich klar gemacht: Die Kirche wird kleiner. Dramatisch kleiner. Bis 2060 werden sich die Mitgliederzahlen halbieren. Es könnte noch schlimmer kommen, es könnte aber auch etwas besser laufen – das entscheidet sich auch daran, wie wir als Kirchen und Gemeinden heute handeln. Neu ist die Lage nicht. Längst ist bekannt, dass die Kirche kleiner wird. Das liegt aber nicht nur am viel beschworenen demografischen Wandel, also dass weniger jüngere Christen nachkommen als alte sterben. Nein, jährlich verlassen Tausende die Kirche. Aus der Evangelischen Landeskirche in Württemberg tritt jedes Jahr eine Kleinstadt aus. Offenbar hat die Kirche keine Relevanz mehr für sie. Das schmerzt. Das lähmt. Das lässt sich nicht mehr kaschieren. Teile der akademisch-theologischen Elite kümmert das freilich nicht; man meint, man könne weiter einen Kulturprotestantismus pflegen, den es längst nicht mehr gibt. Doch es ist unverkennbar: Der Volkskirche geht das Volk flöten. Patentrezepte gegen den Schwund gibt es nicht – zugegebenermaßen auch nicht bei den Gemeindeaufbau-Experten. Es herrscht über Konfessionsgrenzen hinweg eine bedrückende Kirchendämmerung.

Neue Rolle annehmen: Kirche in der Minderheit

Sind wir noch Volkskirche? In vielen Teilen Deutschlands längst nicht mehr. Die immer noch relativ stabile Kirchlichkeit im Süden sollte uns nicht täuschen. Wir sind zunehmend als Kirche in der Minderheit. Politische Macht und gesellschaftlicher Einfluss schwinden. Viele Milieus erreichen wir längst nicht mehr. Reflexartig versuchen wir als Kirche unseren Bestand zu sichern und möglichst viel möglichst lange zu erhalten. Aber wir merken: Das greift nicht mehr. Die Felle schwimmen uns davon. Wir brauchen eine andere Haltung, als nach fortschwimmenden Fellen zu schnappen. Ich meine, es kommt entscheidend darauf an, dass wir unsere neue Rolle annehmen als Kirche in der Minderheit und sie hoffnungsvoll und verheißungsorientiert ausfüllen.

Kein Rückzug in die Innerlichkeit, keine Anpassung bis zur Unkenntlichkeit an gesellschaftliche Trends, sondern ein Ja zu einer öffentlichen missionarischen, diakonischen und durchaus auch gesellschaftskritischen Kirche.

Das alles im besten Sinne selbstbewusst und zukunftsorientiert, weil an Jesus Christus orientiert und von ihm gesegnet. Die Kirche Jesu Christi war noch nie von gestern, sie ist immer die Avantgarde von morgen, weil sie eine einzigartige Hoffnung hat, die sie trägt. Es kommt darauf an, dass wir neu eine Kirche der Hoffnung werden.

Mutig voran als Kirche der Hoffnung

Die flächendeckende Versorgung mit Pfarrerinnen und Pfarrern wird sich langfristig kaum halten lassen. Wir werden nicht verhindern können, dass in manchen Pfarrhäusern das Licht ausgeht, aber wir bezeugen an jedem Ort unverdrossen das Licht der Welt. Doch wie sieht das aus? – Die Veränderungen, die uns in den nächsten Jahrzehnten bevorstehen, sind wohl kaum zu überschätzen. Bestimmt werden neben dem Pfarrberuf andere hauptamtliche Berufsgruppen eine noch größere Rolle im kirchlichen Leben spielen. Erzieherinnen und Diakone, Musiker und Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Therapeuten. Kirche, Diakonie und Bildung werden näher zusammenrücken. Natürlich auch Ehrenamtliche. Und natürlich wird es auch schmerzliche Abschiede geben. Aber wer den Himmel im Herzen hat, steckt den Kopf nicht in den Sand! Darum sollten wir zuversichtlich Neues wagen, auch einmal etwas ausprobieren. Die mitteldeutsche Kirche hat sogenannte Erprobungsräume geschaffen: Mut zum Experiment. Einfach mal probieren, was wächst und was geht. Neue Formen von Gemeinde und Gemeinschaft. Ich finde, davon können wir lernen.

Evangelische Pluralität mit Christus-Profil

Damit wir uns recht verstehen: Ich rede keiner Kirche das Wort, die nur eine bestimmte Prägung hat. Nur eine bestimmte Frömmigkeit, nur eine bestimmte Form, nur eine bestimmte theologische oder kulturelle Farbe – nein, die Kirche ist vielfältig wie schon zur Zeit des Neuen Testaments. Es gibt und es braucht eine Breite. Aber ihre Pluralität ist nicht beliebig, sie soll und darf nicht auf Kosten des Profils gehen. Eine evangelische Pluralität hat immer ein Christus-Profil, sie ist auf Jesus Christus ausgerichtet und durch sein Wort getragen. Klingt ziemlich abstrakt, wird aber schnell konkret. Zum Beispiel wenn es um Gemeindeformen geht. Es braucht in einer Stadt und einer Region nicht in jeder Gemeinde das exakt gleiche Programm: Gottesdienst- und Gemeindeformen dürfen vielfältig werden. Das fängt bei der Musik an, betrifft auch Uhrzeit, Predigtstil und die gesamte Gemeindekultur. Verschiedene Nachbargemeinden dürfen und sollen verschiedene Zielgruppen ansprechen, eigene Schwerpunkte setzen und an Profil gewinnen. Weil wir Menschen so verschieden sind, braucht es vierschieden profilierte Angebote. Alle aber dienen dazu, dass sie eine Heimat in ihrer Kirche und das heißt: im Glauben an Jesus Christus finden. Übrigens, die Gemeinschaftsarbeit fügt sich in ihrer wachsenden Vielfalt genau in dieses Spektrum ein: als ergänzende biblische Vertiefung für Gemeinden, weil sie Wachstum in die Tiefe brauchen; als eigene Gemeinde mit eigenem Gottesdienst neben anderen Gemeinden in einem Bezirk oder als diakonisches oder missionarisches Projekt an einer Schule, in einer Stadt oder Region.

Elende Polarisierung: Klimaschutz gegen Lebensschutz

Zwei andere Beispiele lassen in kirchlichen Debatten gelegentlich den Blutdruck steigen: Wenn es um den Klimaschutz und den Lebensschutz geht, sehen viele rot. Die Erregung findet in zwei Lagern statt, die sich gelegentlich heftig gegen das andere ereifern. In den letzten Wochen wurde das buchstäblich demonstrativ vor Augen geführt: Die einen Christen demonstrierten freitags für den Klimaschutz, die anderen samstags für den Lebensschutz. Eigentlich beides redliche Anliegen und beides komplexe Fragen. (Man kann jeweils auch kritisch hinterfragen: Was bringt ein Klimapaket wirklich? Was ist sinnvoll, was ist nötig? – Und in die andere Richtung: Wer hilft Abtreibungen zu verhindern? Wer steht den Frauen wirklich bei und begleitet sie?) Statt aber die jeweils berechtigten Anliegen anzuerkennen, wird zumindest teilweise das jeweils andere Lager nicht nur mit Kritik, sondern auch mit Häme und Verachtung überzogen. Kein Grußwort der EKD zum „Marsch für das Leben“ in Berlin auf der einen Seite, respektlose Äußerungen über Klimaaktivisten auf vielen Facebook-Seiten und in Leserbriefspalten frommer Gazetten auf der anderen Seite. – Diese Polarisierung ist ein großes Elend. Gerade in unserer Kirche. Warum rüsten wir nicht ab? Warum begreifen wir nicht, dass es in beiden „Lagern“ um Gottes gute Schöpfung geht, um den Schutz des Lebens, das er uns anvertraut hat und das wir zu bewahren haben? – Ich weiß, es sind zwei Paar Stiefel. Beide Themen dürfen nicht einfach vermischt oder parallelisiert werden. Und doch stehen sie für eine Lagerbildung und scharfe Abgrenzungen innerhalb unserer Kirche. Mir geht es nicht um ein träumerisch-harmonisches Ideal. Es geht um unser Miteinander, um unsere Glaubwürdigkeit und um Ehrlichkeit. Und zu dieser gehört, dass die Ausbeutung der Schöpfung ebenso mit Schuld verbunden ist wie die Tötung eines Kindes im Mutterleib. Der Streit um das jeweils Angemessene muss und darf sein, aber Hass und Hetze haben in der Kirche keinen Platz. – Ob wir es schaffen, diese Gräben zu überwinden? Selten war das Brückenbauen so schwer wie in unserer gegenwärtigen Empörungskultur. Aber wir sind an die „anderen“ Schwestern und Brüder gewiesen. Darum halten wir einander fest und halten einander aus. Kirchenaustritt sollte für niemand ein Thema sein, schon gar nicht für Gemeinschaftsleute. Die Themen, vor denen manche aus der Kirche davon laufen, treffen sie in den Freikirchen wieder. Gerade die umstrittenen ethischen Fragen werden wir nicht los – brauchen wir auch nicht. Es kommt darauf an, dass wir sie vor Jesus Christus und im Licht seines Wortes immer wieder neu bewegen.

Allen Unkenrufen zum Trotz: Der Pietismus wächst

Wie steht es in all dem eigentlich um den Pietismus? Er ist seit Jahrhunderten mit der Kirche aufs engste verbunden. Immer dann, wenn er sich von ihr gelöst hat, wurde er im besten Fall Freikirche, im schlimmsten Fall zur Sekte, oder er verschwand ganz von der Landkarte. Pietismus und Kirche durchdringen sich gegenseitig – zum Segen für beide. Die Kirche tut gut daran, den Pietismus als Bibelbewegung und eine ihrer tiefen Kraftquellen zu fördern und ihm immer wieder neu Räume zu öffnen. Tut sie das nicht, verarmt sie. Manche Entwicklungen im Norden Deutschlands geben hier Anlass zur Sorge. – Klar ist auch: Auch die pietistisch geprägten Gemeinden und Gemeinschaften durchlaufen gravierende Veränderungsprozesse. Es gibt noch die klassischen Bibelstunden und wird sie weiter geben, aber in geringerer Zahl und neben anderen Angeboten. Der Pietismus ist vielfältiger geworden: Die Zahl eigener Gemeinden innerhalb der Kirche steigt. Die Diakonie wird wie zu Franckes oder Bodelschwinghs Zeiten neu entdeckt, ebenso die Bildung. Christliche Kindergärten, Schulen und Hochschulen werden neu gegründet. Pflegeeinrichtungen und Tagungshäuser wachsen. Nein, der Pietismus ist nicht auf dem Rückzug. Im Gegenteil: Er wächst in verschiedenen Feldern. Ja, er hat auch schmerzliche Abschiede zu verkraften, klassische Formate gehen zurück, aber neue Initiativen entstehen. Wir Apis haben etwa die Aktion Hoffnungsland gGmbH gegründet. Mit unserer Jugendsozialarbeit, unseren Musikschulen , dem HoffnungsHaus Stuttgart, den neuen Gemeinden und missionarischen Initiativen in verschiedenen Bezirken gehen wir neue Wege. Manches geht zurück. Manche Bibelstunde hört auf. Bestimmt wird auch manches neue Experiment scheitern. Es gibt Krisen. Aber in ihnen wächst Neues. Wir erleben auf dem Schönblick etwa seit Jahren ein erstaunliches Wachstum in verschiedenen Arbeitsfeldern. Jedes Jahr kommen dort Menschen zum Glauben an Jesus Christus. Es ist auch Erweckungszeit. Jetzt, hier und heute. Wir haben im Gesamtwerk so viele hauptamtliche Mitarbeiter wie nie zuvor. – Nein, es gibt nichts schönzureden und schon gar keinen Grund, überheblich zu werden. Aber ich teile den Abgesang auf den Pietismus, den manche anstimmen, überhaupt nicht. Wir erleben Aufbrüche und sind zutiefst dankbar dafür. Darum „aufwärts froh den Blick gewandt“ und mutig voran!

Steffen Kern ist Pfarrer und Journalist, Vorsitzender des Ev. Gemeinschaftsverbandes Württemberg e.V., die Apis und Mitglied der EKD-Synode. Er kandidiert für die Landessynode 2019 im Wahlkreis Tübingen. 

Dieser Text stammt aus dem Magazin „Gemeinschaft“ Ausgabe 11-2019 des Ev. Gemeinschaftsverbandes Württemberg e. V., die Apis. PDF-Download und Bestellmöglichkeit: https://www.die-apis.de/bibel-und-medien/gemeinschaft-das-magazin/

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