Andreas Schmierer, Tübingen

Es gibt zahlreiche Geschichten der Bibel, die für ihre Leser eine Herausforderung oder gar Zumutung sind. Die Berichte über den Tod Jesu gehören sicherlich dazu. Wie kann einer (Jesus) sein Leben für jemand anderen – und hier sogar für alle Menschen – geben? Wie geht das? Vielleicht formuliert Paulus auch deshalb zu Beginn des Korintherbriefes: „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist es Gottes Kraft.“ (1. Korinther 1,18)

Für andere sterben? Was für eine Torheit! 

Für Arnauld Beltrame nicht: Im März 2018 hatte ein IS-Terrorist mehrere Menschen in einem Supermarkt als Geiseln genommen. Als mehrere bereits getötet wurden oder fliehen konnten, blieb noch eine Geisel übrig. Arnauld Beltrame, ein französischer Polizist und überzeugter Katholik, bot sich als Austausch für die Geisel an. Kurz darauf wurde Beltrame vom Geiselnehmer so schwer verletzt, dass er letztlich daran verstarb. Beltrame starb stellvertretend, er rettete das Leben einer Geisel und opferte sich selbst. Natürlich kann man seinen Tod nicht mit Jesu Tod für die gesamte Menschheit vergleichen, aber das Motiv der Stellvertretung wird deutlich. Jesus stirbt an meiner Stelle. Für meine Schuld und mein Versagen, für meine Lieblosigkeit und meinen Egoismus. Das ist fast unglaublich – und doch ganz real. Jesus gibt für uns nicht viel – sondern alles, am Kreuz sogar sich selbst!

Kreuzesgegenwärtig

Kreuzesgegenwärtig leben heißt: Ich verstehe und deute mein Leben komplett vom Kreuz her. Am Kreuz von Golgatha begegne ich meinem Lebensgeber, meinem Tröster und Erlöser. Wenn ich mich selbst nicht mehr leiden kann, weiß ich, dass Christus mich nicht nur einfach so leiden, sondern auch für mich leiden kann.

Kreuzesgegenwärtig leben heißt deshalb dankbar werden, weil Christus alles für mich getan hat. Das lässt mich auch meine Familie, Freunde und die vielen Menschen, mit denen ich in Kontakt bin in einem anderen Licht sehen: Weil Gott mir meine Schuld vergeben hat, weil er den Preis dafür gezahlt hat und den ganzen Mist meines Lebens entsorgt hat, darf ich befreit leben. Das lässt mich dankbar aufatmen und ermöglicht es mir, auch meinen Mitmenschen mit dieser Haltung zu begegnen. Wenn Gott den ganzen Müll meines Lebens vergeben hat, dann bin ich durch ihn auch in der Lage, meinem Nachbarn zu verzeihen, der an mir schuldig geworden ist. Einfach ist es nicht, aber Jesus hat den Weg freigemacht. Kreuzesgegenwärtig leben heißt deshalb für mich: eine neue Perspektive einnehmen. Was Jesus für mich getan hat, motiviert mich, Menschen liebevoll zu begegnen und ihnen gegenüber nicht nachtragend zu sein.

Das Kreuz hochhalten

Ob die Christen auf den Bermuda-Inseln im Nordatlantik das deutsche Lobpreislied „Wir halten hoch das Kreuz“ kennen, ist nicht überliefert. Und doch sind sie ein wunderbares Beispiel für einen kreuzesgegenwärtigen Lebensstil: Am Karfreitag lassen die Christen dort Drachen steigen. Sie erinnern sich mit der Grundkonstruktion des Drachens – einem gespannten Kreuz – an Jesus den Gekreuzigten.

Das Kreuz ist der Tiefpunkt aller menschlichen Versuche, unser Leben in den Griff zu kriegen, und zugleich wird deutlich: Gott regiert, das Opfer ist gebracht, der Tod ist bezwungen, das Leben siegt. Es ist vollbracht!

Mit einem großen Fest wird das auf den Bermuda-Inseln gefeiert. Am Kreuz erklingt das Lied des Lebens.

Das Kreuz von Golgatha: der Gipfel der Liebe Gottes

Ebenso ist das Kreuz der Kulminationspunkt der Liebe Gottes. Hier gipfelt alles: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben — wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Römer 8,31f) Wer seinen eigenen Sohn einem Mob aus religiösen Halbstarken und römischer Elite ausliefert, um damit das Sündenproblem der Menschen aus der Welt zu schaffen, der muss ganz schön viel Liebe für diese Wesen übrighaben! Ich bin überzeugt: Diesem Gott kann ich mein Leben anvertrauen.

Staunen und Bote der Versöhnung sein

Am Kreuz können wir über Gottes unbeschreibliche Größe, seine Majestät und seine Herrlichkeit ins Staunen kommen. Vollkommene Freude über Gott entsteht, wenn wir erkennen, dass Gott seinen Sohn für uns gegeben hat. Dann werden wir staunend auf den Mann am Kreuz blicken, der Sünde, Tod und Teufel besiegt hat und dabei das letzte Wort spricht: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) Der Tod hat nicht das letzte Wort. Es gibt Hoffnung und Zukunft.  Der ultimative „Friday for Future“, der den Lauf der Welt verändert hat, war Karfreitag auf Golgatha. Karfreitag ist das Ende der Macht des Bösen. „Da, am Kreuz, vollendet sich Gottes Liebe.“[1] Eindrucksvoll wird Gott nach drei Tagen seinen Sohn auferwecken und ihn damit bestätigen.

Es ist vollbracht – aber mit Ostern jetzt geht es erst los. Jesu Tod bringt die Wende. Der Tod ist besiegt und doch ist diese Welt noch nicht vollendet und wiederhergestellt.

Theo Sorg sagte einmal: „Es ist vollbracht! – das ist Jesu Tat für uns alle. Aber es ist zugleich auch sein Auftrag an uns alle. Heute, am Karfreitag bittet uns der Gekreuzigte, seine Versöhnung anzunehmen und Boten dieser Versöhnung zu werden.“[2]Einen gesegneten Karfreitag!

Andreas Schmierer, Tübingen
Theologiestudent und Mitglied im Redaktionsteam der Zeitschrift „Lebendige Gemeinde“

[1] Johannes Zimmermann: Geburtstag der Kirche. Predigtmeditation für Karfreitag 2019 (Joh 19,16-30), in: ChristusBewegung „Lebendige Gemeinde“: Zuversicht und Stärke, I/3, Holzgerlingen 2019, 47.

[2] Theo Sorg: „Es ist vollbracht!“ Johannes 19,30, in: ders.; Peter Stuhlmacher: Das Wort vom Kreuz. Zur Predigt am Karfreitag, Stuttgart 1996, 103-108, hier: 108.