Der evangelische Unternehmer Berthold Leibinger ist am 16. Oktober 2018 im Alter von 87 Jahren nach langer, schwerer Krankheit verstorben. Am 26. November 2018 fand in der Stiftskirche ein öffentlicher Trauergottesdienst statt.

Leibinger sei eine Persönlichkeit gewesen, die „deutlich, engagiert und bekennend aus ihrem christlichen Glauben ihre Lebensmitte bestimmt hat“, schrieb in seinem Nachruf der württembergische evangelische Landesbischof Frank Otfried July. Die Landeskirche trauere um ihn. Der ehemalige Chef des Unternehmens Trumpf habe bewusst seine Erfolge mit anderen Menschen geteilt, auch in kirchlichen Stiftungen und Initiativen, so July weiter.  „Berthold Leibinger ging mit den ihm anvertrauten Talenten sorgfältig um, weil er sie als Gottes Gabe und Geschenk verstand“, schrieb der Bischof.

Leibinger ist in Korntal aufgewachsen und sprach öfter über seine Prägung durch den württembergischen Pietismus. Bei der „Werkstatt Pietismus“ am 19. Juni 1999 beim Kirchentag in Stuttgart hielt er einen Vortrag zum Thema „Es sind geistige Kräfte, die die Welt verändern“. Darin beschreibt er seine Erfahrungen aus der Korntaler Zeit und reflektiert, welchen Einfluss der Pietismus auf Wirtschaft und Industrialisierung genommen hat. In Erinnerung an Berthold Leibinger veröffentlichen wir den Vortrag an dieser Stelle.

(Bild: Berthold-Leibinger-Stiftung)

Es sind geistige Kräfte, die die Welt verändern

Vortrag von Dr. Berthold Leibinger, Ditzingen beim Stuttgarter Kirchentag

I. Einleitung

„Es sind geistige Kräfte, die die Welt verändern.“ Das habe ich als Überschrift für meinen Beitrag in der „Werkstatt des Pietismus“ gewählt. Werkstatt, das passt in meinem Fall, denn ich bin Unternehmer – Maschinenbauer, um das Tätigkeitsfeld zu präzisieren.

Mit der Werkstatt bin ich also vertraut und mit wirtschaftlichen Dingen auch. Die Antriebskräfte unseres Handelns haben mich immer interessiert. Dass dabei der Pietismus in meinem Lebenskreis eine wichtige Rolle gespielt hat, ergibt sich aus meiner Vita.

Deshalb wird es Sie nicht wundern, wenn ich mit Ihnen in der nächsten halben Stunde über den Einfluss des Pietismus auf die wirtschaftliche Entwicklung Württembergs nachdenken will.

Warum Württemberg? Das lässt sich vielfältig begründen. Zunächst damit, dass ich hier, in Korntal, aufgewachsen bin und nach Studium und Auslandsjahren auch hier meine wirtschaftliche Heimat gefunden habe. Meine geistige Heimat ist unser Land ohnedies immer geblieben. Mein Elternhaus stand, wie gesagt, in Korntal. Dort bin ich 13 Jahre zur Schule gegangen.

Dass in meinem Elternhaus eine pietistisch bestimmte Großmutter schaltete und waltete und und Kindern ihre Maximen einprägte, ist nichts Besonderes. Das gehört sich fast für einen unterländischen Schwaben.

Erwähnenswerter in diesem Zusammenhang ist eher, dass die jüngste Schwester meiner Mutter in eine der großen Familien der württembergischen „Ehrbarkeit“ einheiratete und neue Tanten und Vettern und Basen auftauchten, die aus einer anderen Welt kamen und mit denen man sich als Sohn eines selbständigen Kaufmanns geistig auseinandersetzen mußte.

Schließlich und vor allem war da das „heilige Korntal“, wie es 1937, als ich zur Schule kam, im Lande noch allgemein hieß. Trotz Nationalsozialismus und Krieg war auch mehr als 100 Jahre nach der Gründung die Gemeinde geprägt von den Gedanken der pietistischen Gründerväter. Lehrer und Mitschüler stammten vielfach aus „alten“ Korntaler Familien, und der Geist des Pietismus war vielerorts lebendig.

Überall war sein Hauch zu spüren. Er wehte heftiger, als das Kriegsglück sich neigte und Leid und Not sich verbreiteten.

Später habe ich gemerkt, dass die Vorstellungen und Forderungen und Ideale des Pietismus mein Tun sehr bestimmten.

Als nach Ende des Krieges die geistige Erneuerung, wie man dies nannte, gelegentlich etwas penetrante Züge annahm, habe ich und viele meiner Mitschüler vieles, was wir als salbungsvolle Frömmelei empfanden, abgelehnt. Später habe ich gemerkt, dass die Vorstellungen und Forderungen und Ideale des Pietismus mein Tun sehr bestimmten. Die Wertvorstellungen, die einer hat, sind richtungsbestimmend, ob man dies will oder nicht. Vorbilder spielen bei der Vermittlung von Wertmaßstäben eine große Rolle. Eines dieser Vorbilder war unser Religions- und Philosophielehrer, Pfarrer Erich Lindenbauer, den ich an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen möchte.

II.

Es hat sich eingebürgert, die ungewöhnlich gute wirtschaftliche Entwicklung Württembergs in den letzten 80 oder 100 Jahren unmittelbar mit der Verbreitung und den Gedanken des Pietismus im Lande zu verbinden.

„Pietismus und Feinmechanik“ überschrieb ein englischer Journalist seine Eindrücke über unser Land in einer Sendung im BBC vor einigen Jahren. Dies – so meinte er – sei sozusagen die Quintessenz Württembergs. Es seien, so sagte er, die Gedanken des Pietismus, die sich ganz auf wirtschaftliches Tun und wirtschaftlichen Erfolg richteten. Und die Tugenden, die der Pietismus abverlange, nämlich Fleiß und Sparsamkeit, seien eine ideale Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg.

Ja, so sagen viele, so sei es. Der Pietismus sei in der Tat für die wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich. Er habe einen einstmals armen Landstrich in einen Garten Eden verwandelt, freilich nur in einen wirtschaftlichen Garten Eden mit einer Fabrik in jedem Dorf.

Und die Kritiker fügen hinzu, er habe auch Enge und Freudlosigkeit mit sich gebracht, und das Ganze führe geradewegs in den Materialismus.

Der Pfarrer und Pietist Philipp Matthäus Hahn dient oft als Kronzeuge für den Anfang der behaupteten Entwicklung. Er habe die feinmechanische Industrie mit den Waagen und Uhren, die er erfand und baute, begründet. In seiner Person seien Pietismus (als Antrieb) und Feinmechanik (als Folge) exemplarisch verschmolzen.

In einer der zahlreichen schriftlichen Spuren, die Philipp Matthäus Hahn hinterlassen hat, in seinem Lebenslauf, schreibt er zur Einführung: „Mir ist von Anfang meines Amtes alles dasjenige, was einen Zweck und Frucht auf die Ewigkeit hat, wichtiger und größer vor meinen Augen gewesen, als alle diese Spielwerke. Folglich ist schon daraus zu schließen, dass ich diese mechanischen Versuche allezeit als eine Nebensache habe traktieren können.“ Schreibt so ein Industriepionier?

Die Autobiographie, die Hahn seiner Schrift „Beschreibung mechanischer Kunstwerke“ vorangestellt hat und die er seinem Gönner, dem Herzog Carl Eugen von Württemberg, gewidmet hat, schließt mit 10 Thesen, die alle zum Inhalt haben, daß ihm das Reich Gottes unendlich wichtiger sei als alle Mechanik.

Moderne Psychologen werden das Leiden Hahns an seiner Leidenschaft für die Mechanik sicher zu deuten wissen. Mir scheint sein Suchen nach einem geistigen, ewigen Ziel, das allem anderen vorangeht, dennoch überzeugend.

Eine unmittelbare Ausrichtung des württembergischen Pietismus auf industrielles Tun, wirtschaftlichen Erfolg als oberstes Lebensziel, hat es jedenfalls nie gegeben.

Eines scheint mir sicher zu sein: Pietismus und Feinmechanik bilden keine selbstverständliche Symbiose. Eine unmittelbare Ausrichtung des württembergischen Pietismus – mit dem wir uns ja in erster Linie zu befassen haben – auf industrielles Tun, wirtschaftlichen Erfolg als oberstes Lebensziel, hat es jedenfalls nie gegeben.

Mit Württemberg ist hier und im folgenden immer Alt-Württemberg gemeint, das unterländische Württemberg also, das Land zwischen Nagold und Ulm, Gmünd und Heilbronn. Es war das einzige größere zusammenhängende lutherische Gebiet im Süden Deutschlands.

Das oberländische, katholische Württemberg hat einen ganz anderen Weg genommen. Wirtschaftlich und soziologisch – auch künstlerisch. Während das Oberland Maler und Orgelbauer, Architekten und die dazugehörigen baufreudigen Äbte hervorbrachte, glänzte das Unterland mit Theologen und Philosophen, Dichtern, Erfindern und Unternehmern.

Der sinnenfrohe Oberländer und der introvertierte, etwas verkniffene Unterländer beweisen, wie sich Stammeseigenschaften – denn beide sind ja vom selben Stamm – unterschiedlich ausprägen lassen.

III.

Das berühmte Essay des Soziologen Max Weber „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ dient vielfach als wissenschaftlicher Hintergrund für die Behauptung, dass sich Protestantismus und Wohlstand fast zwangsläufig verbinden. Weber beginnt mit der Behauptung – ich zitiere – „Ein Blick in die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes pflegt mit auffallender Häufigkeit eine Erscheinung zu zeigen … : den ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums“.

Weber geht den Ursachen nach, warum der protestantische Bevölkerungsteil ein so ganz anderes Verhältnis zur Wirtschaft und zur Technik sucht und offensichtlich findet. Die Betrachtungen Webers werden – wie ich meine – in übertriebener und vereinfachender Weise auf Württemberg und die Wirkungen des Pietismus bezogen. Seine Untersuchungen stützen sich aber zu einem ganz wesentlichen Teil auf die Beobachtung und Interpretation der calvinistischen Arbeitsethik. Weber formuliert die calvinistische Lehre so: „Nicht Gott ist um der Menschen, sondern die Menschen sind um Gottes willen da, und alles Geschehen – also auch die für Calvin zweifellose Tatsache, dass nur ein kleiner Teil der Menschen zur Seligkeit berufen ist – kann seinen Sinn ausschließlich als Mittel zum Zweck der Selbstverherrlichung von Gottes Majestät haben. Maßstäbe irdischer „Gerechtigkeit“ an seine souveränen Verfügungen anzulegen, ist sinnlos und eine Verletzung seiner Majestät.“

Weber meint – zurecht, so denke ich, – , dass diese Lehre in ihrer pathetischen Unmenschlichkeit eine unerhörte Vereinsamung des Individuums mit sich bringen müsse.

Sie führte jedoch nicht zur Lethargie bei ihren Anhängern. Im Gegenteil, denn man glaubte, daß Gott die Auserwählten auch durch Zeichen, die hienieden schon sichtbar sind, auszeichne. Der wirtschaftliche Erfolg gehörte zu diesen Zeichen. Wer ihn hatte, war also auserwählt. Was wollte Gott da noch machen?

Die Nächstenliebe spielt eine Rolle im Calvinismus, aber sie ist nicht das zentrale Anliegen. Sie ist Dienst an Gott, nicht an der Kreatur. Der Beruf spielt eine zentrale Rolle bei der systematischen und rationalen Planung des Lebens. Wichtig ist der Antrieb für den Einzelnen durch Leistung, um sich so seines Gnadenstandes zu versichern. Selbstgewissheit durch rastlose Berufsarbeit: Gott hilft dem, der sich selber hilft.

Damit sind wir beim zweiten Teil der protestantischen Arbeitsethik: der Ablehnung von Müßiggang und – was hinzuzufügen ist – dem Verzicht auf Genuss und Verschwendung. „Innerweltliche Askese“ ist der Begriff, den Max Weber dafür prägt.

Harte Arbeit und die Forderung, die Früchte derselben zwar anzusehen, aber nicht zu genießen, sondern unter Verzicht auf Wohlleben erneut fleißig zu sein, sind fast eine Garantie für wirtschaftlichen Erfolg.

Aber es ist ein schreckliches Dasein. Wenn sich Pflicht, Angst und Verzicht in einem System strenger Lebensführung ausschließlich finden, wenn Gefühl, menschliche Wärme, Möglichkeit der persönlichen Niederlage, wenn Sünde und Vergebung im Leben keinen Platz haben, muß dies in eine neurotische Gesellschaft führen.

IV.

Die Entwicklung des deutschen Pietismus führt von der Prädestinationslehre des Calvinismus weg. Aber wesentliche Gedanken des Calvinismus fließen durchaus ein und sind an vielen Stellen sichtbar. Auch Francke meint, „daß Gott selbst es sei, der durch den Erfolg die Arbeit der Seinen segne.“ Auf schwäbisch (ich habe das oft gehört): „Auf dem liegt der Segen.“

Auch dem Gedanken des Verzichts, der Sparsamkeit, der Askese ist man aufgeschlossen, aber – das ist der große Unterschied – dem Gefühl gibt man Raum. Die „Kindlichkeit des religiösen Empfindens“, meint Zinzendorf, „sei Merkmal seiner Echtheit“.

Das methodistische Vollkommenheitsstreben wird abgelehnt. Die Brüdergemeinde lässt ihre Mitglieder die Seligkeit oder Glückseligkeit schon hienieden empfinden. Dies alles in Maßen – versteht sich.

Der „schmale Weg“ war`s, für den wir uns entschieden hatten, und er war vom „breiten Weg“ mit all seinen Verlockungen und bösen Folgen durch das berühmte Bild in der Vorstellung jedes einzelnen Schwaben so eindrücklich abgesetzt, dass es klar war, auf welchem Weg man gehen mußte.

Von einem Familienmitglied, von dem bekannt war, dass es hin und wieder vom Pfad der Tugend abwich, sagte eine meiner Tanten: „Wenn er doch wenigstens fröhlich sündigen könnte.“

Zum Wesen des württembergischen Pietismus gehört, daß man sich zwar „fröhlich“ gab, innerlich zur Freudlosigkeit aber fast verpflichtet fühlte. Ausgelassenheit, selbst lautes Lachen war bei den Frommen verpönt. Aber Menschen blieben sie allemal. In Korntal, so sagte man, gehe der Teufel in Samtschuhen (also leise) umher: Von einem Familienmitglied, von dem bekannt war, dass es hin und wieder vom Pfad der Tugend abwich, sagte eine meiner Tanten: „Wenn er doch wenigstens fröhlich sündigen könnte.“

Die christliche Aktivität der Gemeinde oder der Gemeinschaft zielt auf karitatives Wirken – zahlreiche Rettungsstationen und Waisenhäuser wurden eingerichtet -, auch auf Erziehung und Lehren – Korntal und Wilhelmsdorf waren Schulstädte -, dann auf die Mission, und daraus abgeleitet auf den Beruf.

Bei den deutschen Pietisten war Beruf auch Berufung. Ein Leben in Sittlichkeit genügte nicht. Aber anders als im Calvinismus war man der Meinung, dass Gott jeden an seinen Platz gestellt habe, auf dem er zu wirken und seine Intelligenz zu entfalten habe. Das Bleiben im eigenen Stand ist Teil der Demut, zu der man sich verpflichtet sah.

Die brutale Notwendigkeit, sich durch meßbaren und großen wirtschaftlichen Erfolg den Auserwählten zurechnen zu können, die der Calvinismus fordert, fehlt.

Die Ethik des Calvinismus ist härter und konsequenter und kälter. Der Pietismus, auf lutherischem Boden stehend, weniger methodisch, unsicherer in den Maximen, aber zutiefst menschlicher.

V.

Württemberg war nach dem 30jährigen Krieg ein besonders armes Land im armen Deutschland. Es hatte weder fruchtbare Böden noch nennenswerte Bodenschätze – damals die einzigen Quellen des Reichtums. Aber es hatte besondere rechtliche Verhältnisse.

Der Landadel hatte sich aus der Landwirtschaft weitgehend zurückgezogen. Sie war nicht mehr lukrativ. Aus Fronbauern waren schon im 16. Jahrhundert freie Bauern geworden, die im Erbfall ihren Besitz unter den Kindern aufteilten.

Die Realteilung, die auch die Töchter einschloß, zerteilte das Land in eine Vielzahl kleiner Höfe – zu groß zum Sterben und zu klein, um davon zu leben. Die Folge war die Notwendigkeit des Nebenerwerbs. Jeder (oder beinahe jeder) hatte ein kleines Startkapital, aber dies galt es zu bewahren und zu mehren.

Wie zerstückelt das Land ist, wird heute eigentlich nur noch durch einen Einblick in die Pläne der Katasterämter deutlich, weil die zahlreichen „Handtücher“, wie wir die schmalen Äcker nennen, inzwischen vielfach an Bauern verpachtet sind, die größere Stücke bewirtschaften. Der Erwerb eines Hektars Ackerland als Bauland etwa, bedeutet häufig die Verhandlung mit 10 oder 15 Eigentümern.

Die Tugenden des Pietismus – Fleiß, Sparsamkeit, Hinwendung zur Tat – kamen für das zerstückelte Land wie gerufen. Sie schufen die Voraussetzungen für die lebensnotwendige wirtschaftliche Entwicklung.

Die Tugenden des Pietismus – Fleiß, Sparsamkeit, Hinwendung zur Tat – kamen für das zerstückelte Land wie gerufen. Sie schufen die Voraussetzungen für die lebensnotwendige wirtschaftliche Entwicklung.

Die Gleichheit vor Gott war durch die sozialen Gegebenheiten auf Erden schon vollzogen –vor allem für den Stand der Bauern. Handwerker und Gastwirte. Darüber stand die Schicht der „Ehrbarkeit“ – die Hofbeamten, Pfarrer, Ärzte und Verwalter. Sie waren von Berufs wegen, aber auch ihrer innerlichen Haltung wegen an der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Land wenig beteiligt.

Die besten Köpfe des Landes studierten nach dem Landexamen im Tübinger Stift Theologie oder Philosophie, auch Jura, allenfalls Medizin. Sie wurden Hofprediger, Staatsrechtler, Professoren – wenn sie im Lande blieben – oder Dichter, Philosophen und wirkten dann vielfach außer Landes. Namen wie Schiller, der – von der Karlsschule kommend – eher eine Ausnahme darstellt, Hölderlin, Schelling, Hegel, Mörike und Uhland bis hin zu Hesse begründeten den Ruf des Landes, Dichter und Denker hervorzubringen.

Die geistige Tradition ist durch Theologie und Literatur geprägt. Dazu kommt, daß der Austausch der „Ehrbarkeit“ mit den niederen Ständen gering war. 90 Prozent der evangelischen Pfarrer kamen wieder aus Pfarrersfamilien. Man kann dies eindrucksvoll durch Lesen der Herkunftsregister der Seminaristen in Maulbronn oder Blaubeuren nachvollziehen.

Auch Hofbeamte, Ärzte und Verwaltungsleute blieben unter sich. Das Bildungsideal ist bis in unsere Tage hinein an den Geisteswissenschaften orientiert. Die Naturwissenschaft oder gar die Wirtschaft selbst sind Kategorien geringeren geistigen Ranges.

Bis heute gilt es in unserer Gesellschaft als durchaus akzeptabel, über Technik und Wirtschaft nichts oder wenig zu wissen. Was mich immer ärgert, ist, dass man sich dieses Nicht-Wissens auch noch rühmt, sozusagen um die eigene Geistigkeit zu unterstreichen. Zu wissen, was ein Hexameter sei, ist immer noch allemal wichtiger, als die Kenntnis des Ohm`schen Gesetzes.

VI.

In der breiten Schicht der „niederen“ Stände, bei den Bauern, Handwerkern und Gastwirten, fand der Pietismus seinen großen Widerhall. Und sein Grundmuster, nämlich die Suche nach dem eigenen Weg zu Gott, schuf jene grüblerisch-eigenwillige Grundhaltung, die gleichzeitig eine ideale Disposition für wirtschaftlichen Erfolg ist.

Das bohrende Suchen und Fragen, auch die Selbstdarstellung, die in den religiösen Versammlungen geübt wurde, blieben nicht auf die „Stunden“ beschränkt. Sie wurden in den beruflichen Alltag übertragen.

Für Nicht-Schwaben: Gemeint sind mit den „Stunden“ die Versammlungen der Pietisten, die deshalb auch „Stundenbrüder“ genannt wurden. Dort wurde Gottes Wort nicht nur gelesen, sondern auch ausgelegt. Auch die Laien kamen zu Wort, und die Gelegenheit zum Reden wurde gerne wahrgenommen. Jeder Schwabe kennt Beispiele eigenwilliger Interpretation.

Die Überzeugung, dass zwischen Gott und mir niemand steht, dass ich unmittelbar verantwortlich bin, schafft einen besonderen Menschentypus.

Der Pietismus hat denen, die von ihm geprägt wurden, auch Selbstbewusstsein gegeben. Die Überzeugung, dass zwischen Gott und mir niemand steht, dass ich unmittelbar verantwortlich bin, schafft einen besonderen Menschentypus.

Entscheidend ist, dass die religiösen Ziele, das Suchen nach dem persönlichen Gott, das Streben nach einem gottgefälligen Leben mit den Auflagen, ebenso fleißig zu arbeiten wie zu sparen, Lebensziele einer Gesellschaft werden. Daraus entstand jenes Klima, das der wirtschaftlichen Entwicklung in Württemberg förderlich war.

Wirtschaft, Technik, Industrialisierung sind keineswegs originäre Ziele des Pietismus. Man steht in dem Jahrhundert, in dem die Industrialisierung begann, nämlich dem 19. Jahrhundert, als der Pietismus schon vielfach konservative und veränderungsfeindliche Formen angenommen hatte, der technischen Entwicklung fremd, oft ablehnend gegenüber.

Erwähnt muß allerdings werden, daß im Pietismus die Naturbeobachtung, neben dem Lesen der Bibel und der Erforschung des eigenen Gewissens, einer der Wege zu Gott ist. Aus dieser Naturbeobachtung, die z.B. bei Oetinger eine große Rolle spielt, ist natürlich eine Neigung zum Forschen und zum naturwissenschaftlichen Denken entstanden, die nicht unbeachtet bleiben soll.

Es waren meist die Söhne von Pietisten, die, aus der Schicht der Handwerker und Bauern stammend, unternehmerisch tätig wurden.

Trotzdem: Der Pietismus hat die Industrialisierung und ihre Auswirkungen nicht als ein Kernproblem und Kernanliegen gesehen. Die Industrie Württembergs ist vielfach aus dem Handwerk hervorgegangen. Wenn man sich mit den Firmengeschichten befasst, zeigt sich, dass es selten praktzierende Pietisten waren – wenn ich den Terminus hier einmal einführen darf -, die industriell tätig wurden. Es waren meist die Söhne von Pietisten, die, aus der Schicht der Handwerker und Bauern stammend, unternehmerisch tätig wurden. Sie brachten aber Gedanken und Ziele des Pietismus in ihre Arbeit durchaus ein, ohne selbst am pietistischen Leben teilzunehmen.

VII.

Was ist von all dem geblieben? Was bewegt und treibt den „Homo Oeconomicus“ unserer Tage? Sicher ist, dass sich die Verhältnisse in Deutschland grundlegend geändert haben. Ich sehe insbesondere zwei Grundlinien:

  1. Eine fortschreitende Entkirchlichung unserer Gesellschaft.
  2. Völlig veränderte soziale und wirtschaftliche Bedingungen.

Die Deutschen sind wohlhabend geworden oder halten sich wenigstens dafür.

Die erste Erscheinung, die Entkirchlichung, mit der eine Abnahme des Einflusses der christlichen Werte einhergeht, brauche ich Ihnen nicht zu beschreiben. Sie können sie allsonntäglich schon rein zahlenmäßig beim Kirchenbesuch erfassen. Die Kirche verliert zunehmend Einfluss auf die breite Masse der Bevölkerung.

Zum Zweiten, dem Wohlstand, muss gesagt werden, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in erster Linie dadurch bewirkt werden, dass zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung an der Wohlstandsvermehrung teilnimmt. Diese Wohlstandsvermehrung ist durch die industrielle Revolution möglich geworden. Die Umsetzung der technisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Öffnung der Welt als Markt, verbunden mit einer außerordentlich langen Friedensperiode, haben bewirkt, dass zum ersten Mal in Deutschland eine Generation geboren wurde, für die die existentiellen Grundfragen des Lebens gelöst sind.

Nahrung, Kleidung und Wohnung, die Grundbedürfnisse unserer Existenz, sind für fast alle selbstverständlich befriedigt.

Die erste Sorge aller früheren Generationen existiert nicht mehr. Ich stehe nicht an, zu sagen, dass wir den höchsten Lebensstandard der Welt haben. Lebensstandard definiert nicht nur durch das verfügbare Einkommen, sondern ebenso durch soziale Sicherheit, durch medizinische Versorgung, durch Zugang zu Bildungseinrichtungen, durch Verfügbarkeit von Freizeiteinrichtungen und so weiter, und so weiter. Es gibt kein Land, wo die Summe dieser Leistungen übertroffen wird.

Ich will hier und in diesem Zusammenhang wahrlich nicht der Frage nachgehen, ob wir uns dies alles leisten können.

Sicher ist, dass die vorteilhaften Gegebenheiten, die wir hierzulande vorfinden, einerseits als fester Besitzstand angesehen werden und andererseits die Anforderungen, die die Menschen an sich selber stellen, bestimmen. Hier haben sich große Veränderungen ergeben. Wir haben einen Wertewandel erfahren, der tief geht. Wir spüren alle, dass sich insbesondere die Einstellung zur Arbeit verändert hat. Wie tiefgreifend und vor allem in welcher Richtung ist durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegt worden. Wir haben in unserem Jahrhundert die Demoskopie erfunden, die systematische Befragung der Menschen zu allem, was wir für wesentlich halten.

Die Ergebnisse der Ermittlungen zu unserem Thema, der Arbeit, sind erstaunlich. In Deutschland – es gibt keine gesonderten Untersuchungen für Baden-Württemberg oder gar das alte Württemberg – sieht eine immer größere Zahl der Menschen in der Arbeit nicht mehr das zentrale Anliegen.

„Wir leben nicht, um zu arbeiten, – wir arbeiten, um zu leben“. Dieser Lebensmaxime stimmen 67 Prozent der erwachsenen Deutschen in einer Umfrage zu.

„Wir leben nicht, um zu arbeiten, – wir arbeiten, um zu leben“. Dieser Lebensmaxime stimmen 67 Prozent der erwachsenen Deutschen in einer Umfrage zu. Dabei beobachten wir eine kontinuierliche Abnahme der Arbeitslust. Während 29 Prozent aller Deutschen im Jahr 1962 sagten, am liebsten seien ihnen die Stunden, in denen sie nicht arbeiten, waren dies 1990 schon 42 Prozent.

Etwa gleich geblieben ist die Zahl derer, die nichts lieber tun als arbeiten. In diese Gruppe gehören Künstler, Selbständige, Unternehmer. Leute, für die Beruf und Berufung zusammenfallen. Ganze 11 Prozent sind dies – also eher eine Randgruppe.

Interessant ist, dass die gleichen Untersuchungen in Schweden oder den USA oder auch in Frankreich ergeben haben, dass die Zahl derjenigen, die bei ihrer Arbeit Freude empfinden, ungleich größer ist als in Deutschland. Wir haben also ein deutsches Sonderproblem. Auch hierzu noch einige Zahlen: In Deutschland sagen 42 Prozent, „Ich setze mich in meinem Beruf ganz ein“. In den USA sind dies 68 Prozent, in Israel 79 Prozent. Selbst in Schweden oder Großbritannien, Länder, die ja, was die Arbeitseinstellung angeht, eher kritisch gesehen werden, sind es 56 bzw. 66 Prozent. Nochmals: in Deutschland ganze 42 Prozent.

VIII.

Die Gründe für die veränderten Werte werden je nach politischem Standort bei unterschiedlichen Faktoren gesucht. Die einen, eher linken Soziologen, sehen die Sinnentleerung der Arbeit als Ursache. Stichworte sind Fließband, Monotonie, Taylorismus. Die anderen, rechten Soziologen sehen die Beeinflussung der Menschen durch die Medien, die ihnen alles mögliche Negative zum Arbeitsleben suggerieren, als wesentlichen Grund.

Beide stimmen darin überein, dass die alten Werte wie Pflichterfüllung, Anerkennung durch die Gruppe, Sparsamkeit an Bedeutung abgenommen haben und dass individuelle Werte, sogenannte Selbstentfaltungswerte wie Kreativität, Selbstverwirklichung, Lustgewinn durch Arbeit an Bedeutung gewonnen haben.

Der Soziologe Klages hat ermittelt, dass die Selbstentfaltung das zentrale Thema geworden ist und dass hierbei drei Wertegruppen das Denken der Menschen beherrschen, nämlich:

  1. Der gesellschaftsbezogene Idealismus, für den etwa Gleichheit, Demokratie, Partizipation stehen;
  2. Der Hedonismus. Stichworte sind Genuss, Abenteuer, Abwechslung; und als
  3. Der Individualismus. Stichworte sind Kreativität, Ungebundenheit, Eigenständigkeit.

Dieser Übergang von einem nomozentrischen zu einem autozentrischen Selbst- und Weltverständnis sei – so meint Klages – in Deutschland nachhaltiger zu beobachten als in allen anderen Ländern. Dies könnte auch erklären, warum wir den genannten industrialisierten Ländern beim Wertewandel vorauseilen.

Es könnte aber auch darin begründet sein, dass wir Deutsche geistige Strömungen nachhaltiger empfinden und sie vor allem konsequenter umsetzen, als andere. Unsere Erfahrungen mit Nationalismus oder Sozialismus könnten hier Hinweise geben. Vielleicht sind wir dabei, auch den Hedonismus ad absurdum zu führen, indem wir ihn perfektionieren.

Die Freizeitwütigkeit unserer Gesellschaft müsste uns nachdenklich machen.

Die Freizeitwütigkeit unserer Gesellschaft müsste uns nachdenklich machen. Man geht im deutschen Wald „nicht mehr so für sich hin – um nichts zu suchen.

Wenn man es tut, wird man alsbald von prustenden und schwitzenden Zeitgenossen überholt. Joggern und Waldläufern, deren Züge nicht selten von Leidensfähigkeit, ja Leidenslust geprägt sind. Die innerweltliche Askese Max Webers wird hier vorgelebt.

Oder denken Sie an die Heerscharen der uniformierten Radfahrer – auf Rennrädern versteht sich -, die unsere Straßen bevölkern, keuchend und tief gebückt treten sie sich durch Gottes Natur.

Auch hier werden Pflichterfüllung und Freudlosigkeit – wir sprachen gerade in anderem Zusammenhang davon – aufs Nachdrücklichste demonstriert.

Man muss in diesem Zusammenhang auch die Reisewut der Deutschen erwähnen. Was treibt denn die Menschen in ferne Länder? Neugier? Der Drang, Anderes und Andere kennenzulernen oder die Flucht vor sich selbst? Häufig dies, meine ich. „Selbst auf der Fifth Avenue fällt sie die Leere an“ meint Gottfried Benn.

Entscheidend scheint mir zu sein, dass in der Freizeitkultur selten einer etwas für andere tut. Er tut es immer nur für sich selbst. Und bei aller Anstrengung lässt dies wohl unbefriedigt. Anders ist kaum erklärbar, dass wir immer neue Herausforderungen brauchen, um mit unserer vielen Freizeit fertig zu werden.

IX.

Es war die Rede davon, dass die Grundbedürfnisse der Menschen in unserer Industriegesellschaft befriedigt seien. Ist dies wirklich so? Der Erfolg der Sekten in aller Welt spricht dagegen. Die Verführbarkeit insbesondere junger Menschen durch Gaukler und Gurus, vor allem in Ländern mit großem Wohlstand, zeigt, dass wir wichtige Antworten nicht geben.

Die Anfälligkeit gegenüber Ideologien linker und rechter Provenienz, auch die Flucht in Alkohol und Drogen zeigen, dass in entscheidenden Lebensbereichen ein Vakuum entstanden ist.

Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit lässt uns – trotz aller Verdrängungskünste – die Frage nach dem Sinn des Lebens immer neu stellen.

Positiv gesehen wird dabei deutlich, dass die Suche der Menschen nach geistigen Zielen bleibt. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit lässt uns – trotz aller Verdrängungskünste – die Frage nach dem Sinn des Lebens immer neu stellen.

„Wir leben nicht, um zu arbeiten, – wir arbeiten, um zu leben“, sagen die meisten Deutschen. Aber werden wir damit glücklich? Genügt dies? Hatte Luther mit seiner Deutung des Psalmworts „Unser Leben währet 60 Jahr, und wenn`s hoch kommt, sind es 70 Jahr, und wenn`s köstlich gewesen ist, ist`s Mühe und Arbeit gewesen“, nicht doch recht?

Die Soziologen unserer Tage werden einwenden, dass man in Fließbandarbeit mit ihrer Monotonie nichts Köstliches entdecken könne und fühlen sich eher an das Bibelwort erinnert, dass wir im Schweiße unseres Angesichts unser Brot essen sollen und dass unser Acker Dornen und Disteln tragen soll. Aber dieser Hinweis greift auch zu kurz.

Zum einen erfasst er nur einen kleinen Teil unserer Industriegesellschaft, und zum anderen ergeben sich gerade in der Massenproduktion zahlreiche neue Ansätze, die uns ermöglichen, durch Technik, aber auch durch neue Organisationsformen die Monotonie der Arbeit aufzulösen und der Eigenverantwortung der Menschen in unseren Fabriken mehr Raum zu verschaffen.

Wir können die „alten“, nomozentrischen Werte, wie Pflichterfüllung, Zuverlässigkeit, Fleiß, Verantwortung für andere, verbinden – oder wenn Sie wollen – versöhnen mit den „neuen“ autozentrischen Werten Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung und dem Lustgewinn durch Arbeit.

Die Kirche sollte sich jedoch nicht auf die Techniker und Organisatoren in der Wirtschaft alleine verlassen. Sie sollte an den Veränderungen in unserer Gesellschaft, die nötig sind, aktiv mitwirken. Es sind immer geistige Kräfte, die die Welt verändern.

Der Pietismus des 18. Jahrhunderts kann dabei als Vorbild dienen. Auch damals ging es um Aufbruch und Selbstverwirklichung. Nach der Verkrustung im 19. Jahrhundert könnte der Pietismus in unserer Zeit einen neuen Anstoß geben. Das Evangelium muss immer wieder neu interpretiert werden.

Für die Vorstellungen unserer Zeit zur Arbeit braucht das Christentum ohnedies nichts Neues zu erfinden.

Schon der Prediger Salomo meinte „So sah ich dann, dass nichts Besseres ist, denn dass der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit, denn das ist sein Teil.“ (Prediger 3, 27)